„Wir fühlten uns ohnmächtig gegen so viel Ungerechtigkeit“

Silvio Köhler, Politikwissenschaftler, war von 2005-2006 ein Jahr im pbi-Team in Guatemala. Für die Internationalen Freiwilligendienste für unterschiedliche Lebensphasen (IFL) hat er ein paar seiner Eindrücke in einem Bericht zu Papier gebracht. Dort heißt es:

„pbi ist eine internationale Friedens- und Menschenrechtsorganisation, die von den Vereinten Nationen anerkannt ist und bereits einige Erfahrung im Bereich ziviler Konfliktbearbeitung gesammelt hat. In Guatemala begleitet pbi bereits seit 1983 – damals noch unter der Militärdiktatur – zivilgesellschaftliche Gruppen und Personen, die von politischer Gewalt bedroht sind.

Hierzu entsendet pbi auf Anfrage internationale Freiwilligen-Teams, welche durch ihre Präsenz vor Ort, durch einen physischen Begleitschutz für bedrohte Personen, aber auch mit Hilfe von Trainings, Lobbyund Informationsarbeit dazu beitragen, dass die internationale Öffentlichkeit die Konfliktsituation in Guatemala wahrnimmt. Zugleich können wir mit unserer ganz praktischen Arbeit vor Ort den Handlungsraum lokaler Gruppen stärken, damit diese ihre sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Rechte einfordern können. Während meines Freiwilligendienstes bestand das Guatemala-Team aus acht internationalen Freiwilligen. Mit Ulrike Beck und mir waren zwei IFL-Freiwillige aus Deutschland dabei.

Zu den von uns begleiteten Organisationen gehören neben Umwelt- und Bauernorganisationen auch verschiedene Gewerkschaften, wie die Gewerkschaft der Arbeiter_innen des Unternehmens NB (SITRA NB), die von pbi bereits seit August 2004 begleitet wurde.

Die Arbeitsbedingungen in dieser “maquila” (Weltmarktfabrik) waren extrem schwierig. Neben der generell schlechten Bezahlung gab es vereinzelte Übergriffe auf Gewerkschaftsmitglieder, Einschränkungen bei den Pausen, unvollständige Lohnauszahlung, Behinderungen beim Einhalten der Stillzeiten, unsichere Arbeitsendzeiten und Aussperrungen für diejenigen, die nicht pünktlich in der Fabrik waren. Die Vorarbeiter warfen den Arbeiter_innen die konfektionierte Ware mehrmals wegen angeblicher Mängel hin. In Zeiten von geringer Auslastung wurden die Beschäftigten schon frühzeitig nach Hause geschickt oder für mehrere Tage ohne Lohnauszahlung nicht beschäftigt. Dafür mussten sie bei höherer Auslastung Überstunden leisten, die nicht vergütet wurden.

Im Januar 2005 wurden Mitglieder der Gewerkschaft wiederholt von Vertreter_innen des Unternehmens tätlich angegriffen. Daraufhin aktivierte pbi sein Frühwarnsystem und führte in diesem Rahmen Gespräche mit verschiedenen Botschaften und staatlichen Stellen durch, in denen pbi auf die Arbeitsbedingungen und die bedrohliche Situation der Beschäftigten in der maquila aufmerksam machte. Trotz zwischenzeitlicher Erfolge bei der Durchsetzung ihrer Rechte, wurde die Fabrik im Juni 2005 ohne Vorwarnung und ohne juristisches Vorgehen geschlossen und von der Firmenleitung für insolvent erklärt.

Als wir am Tag der Schließung einen Notruf erhielten, fuhr ich sofort mit einem weiteren Freiwilligen zur Fabrik. Dort angekommen war es uns lediglich möglich, durch einen kleinen Spalt an der Tür Kontakt zu den Beschäftigten aufzunehmen. Die Frauen waren verzweifelt und berichteten uns, dass sie extrem unter Druck gesetzt worden seien, um eine Verzichtserklärung auf die komplette Abfindung zu unterzeichnen und sich mit ca. 20 Prozent zufrieden zu geben. Während des gesamten Tages waren wir vor den Toren und versuchten, die Frauen zu unterstützen. Wir suchten den Kontakt zu den Inspektoren des Arbeitsministeriums und der örtlichen Polizei, um auf die Unrechtmäßigkeit der Maßnahmen hinzuweisen. Von der Polizei erfuhren wir lediglich, dass sie erst einschreite, wenn es zu Ausschreitungen und Verletzten komme. Den Inspektoren wurde vom privaten Wachdienst des Unternehmens unberechtigter Weise der Zutritt verwehrt. Wie die Gewerkschafter_innen fühlten wir uns ohnmächtig gegen so viel Ungerechtigkeit. Als die Frauen endlich die Fabrik verlassen konnten, waren sie sichtbar von dem Erlebten gezeichnet.

Nach der Schließung verbrachten die Arbeiter_innen – größtenteils Frauen – einen Monat lang unter widrigen Umständen Tag und Nacht vor der Fabrik, um so den Abtransport der gesamten Industrieanlage zu verhindern. Dies war nötig, um mit den Vertreter_innen von NB eine wertliche Grundlage für die weiteren Gespräche zu haben. Dabei wurden sie mehrmals täglich von uns Freiwilligen von pbi begleitet. Während des friedlichen Protestes gegen die Schließung gab es vereinzelte Schüsse in Richtung der Demonstranten. Die Männer und Frauen waren jedoch nicht nur Einschüchterungen ausgesetzt. So litten viele von ihnen unter immer größerem Schlafmangel. Da sie in der Zwischenzeit kein Geld verdienten, waren sie außerdem häufig auf Spenden aus der Familie oder von Mitgliedern solidarischer Gewerkschaften angewiesen. Besonders diejenigen Frauen mit Säuglingen oder Kleinkindern hatten gravierende Probleme bei der Ernährung ihrer Familien und der Bezahlung der Miete.

Ging es ihnen bei ihren Forderungen gegenüber dem Arbeitgeber zunächst um die Wiedereröffnung und die Weiterbeschäftigung für die Arbeiter_innen in der maquila, stand nach langen Verhandlungen die Zahlung der kompletten Abfindung für alle, die die angebotene Abfindung nicht akzeptierten, für alle Schwangeren und alle, die die NB bei der Staatsanwaltschaft verklagt hatten, im Vordergrund. Nach einem Monat Arbeitskampf waren wenigstens diese Forderungen erreicht und mehrere der Gewerkschafter_innen gingen neue Arbeitsverhältnisse in anderen maquilas ein. Schon nach kurzer Zeit, manchmal bereits am ersten Tag, wurden sie jedoch unverhofft wieder entlassen. Auf Nachfragen stellte sich heraus, dass ihre Namen auf, unter den Besitzern kursierenden, schwarzen Listen standen. Somit wurde es den Frauen zusätzlich erschwert, einen neuen Job zu bekommen.

Für mich persönlich war der Fall der Gewerkschaft ein besonders hartes Beispiel für die fehlende Umsetzung von international anerkannten Arbeitsrechten. In Guatemala sind nur weniger als zwei Prozent der arbeitenden Bevölkerung in Gewerkschaften organisiert. Deren Mitglieder werden immer wieder Opfer von zum Teil gewalttätigen Übergriffen. Aus Angst ausländisches Kapital zu verlieren und zukünftige Investor_innen abzuschrecken, werden widrige Arbeitsbedingungen und Übergriffe auf die Beschäftigten in maquilas häufig vom guatemaltekischen Arbeitsministerium akzeptiert. Anzeigen von Seiten der Beschäftigten wird von der Staatsanwaltschaft nur unzureichend nachgegangen. Die Gerichtsverfahren sind zudem langwierig und versprechen nur geringe Erfolgsaussichten. Die Besitzer brauchen meistens nur mit der Schliessung einiger Fabriken oder mit dem Verlassen des Landes zu drohen.

Deshalb ist es um so wichtiger, dass internationale Organisationen wie pbi die Gewerkschaften unterstützen und ihre Mitglieder begleiten. Aus meinen Erfahrungen ist die Arbeit von pbi von großer Bedeutung für die Menschenrechtsverteidiger_innen, die wegen ihrer Arbeit bedroht werden und ermöglicht es ihnen, weiterhin ihre gesetzlich zugesicherten Rechte einzufordern. Auch persönlich war es lohnenswert als Freiwilliger für pbi tätig zu sein. Der Freiwilligendienst ermöglichte mir einen Einblick in die Konflikte Guatemalas. Ferner habe ich den Einfluss des Nordens auf die Länder des Südens aus einer anderen Perspektive kennen gelernt. Seit Ende März 2006 bin ich zurück in Deutschland. Zukünftig möchte ich mich von hier aus für die Belange der Länder der südlichen Hemisphäre einsetzen.“