„Kein Tag sieht aus wie der andere“

Annette Fingscheidt, Sozialanthropologin, verbrachte 1999/2000 ein Jahr mit pbi in Kolumbien:

„pbi ist eine internationale regierungsunabhängige Organisation, die in Kolumbien seit 1994 mit einem Team von internationalen Begleiter_innen und Beobachter_innenn tätig ist. Ziel ist es, den politischen Spielraum derjenigen Menschenrechtsverteidiger_innen zu schützen, die aufgrund ihrer gewaltlosen Arbeit Opfer gewalttätiger Übergriffe werden können.‘ So etwa bekommen Interessierte die Arbeit von pbi erklärt. Eine klare und deutliche Erklärung, die kaum Zweifel über den Kern der Sache aufkommen lässt. Umso mehr stellt sich aber die berechtigte Frage, wie das denn alles in der Praxis abläuft und wie das Alltagsleben der pbi-Freiwilligen aussieht. Denn aus der Ferne hört sich die Tätigkeit der Freiwilligen oft sehr heroisch an. So hat mir doch kürzlich eine Zuhörerin während eines Vortrags gesagt, ich solle froh sein, ´da überhaupt lebend herausgekommen zu sein‘.

Ist die Arbeit gefährlich und so aufregend wie der Gang durch eine fremde Stadt, in der man nicht weiß, was einen an der nächsten Ecke erwartet? Oder wird sie irgendwann einmal, wie fast jede Tätigkeit, zur Routine? Nach einem Jahr im wunderschönen grünen und tropischen Urabá, unter armen Flüchtlingen und reichen Geschäftsleuten, Soldaten und Bürokraten, Analphabeten und Intellektuellen, in Urwalddörfern ohne Weg und Steg und in einem mit moderner Technologie ausgestattetem Büro und in einem aus sehr verschiedenen Menschen zusammengesetzten Team würde ich sagen, dass es beides ist.

Begleiten in Urabá bedeutet unzählige Dinge tun. In Turbo, ein nicht gerade idyllisches Hafenstädtchen, in dem unser Büro und Wohnhaus liegt, leben etwa 3.500 Vertriebene, die von pbi begleitet werden. Das bedeutet mehrmals täglich mit dem Fahrrad oder Auto und mit einem T-Shirt bekleidet, das deutlich aussagt, dass man zu pbi gehört, die so genannte Runde zu machen. Es ist wichtig, dass sie uns dort sehen, damit sie die Flüchtlinge in Ruhe lassen. „Sie“, das sind Polizisten und Soldaten, aber auch Zivilisten, die auf Motorrädern oder in Autos ohne Nummernschild herumfahren, oft mit einer Waffe unter dem Hemd, und wehrlose Menschen bedrohen. Manchmal, wenn die Situation gespannt ist, müssen diese „Runden“ auch nachts gedreht werden, dann im Auto, zu zweit und mit Telefon. Das gehört dazu: Sicherheit geht vor. Wir müssen uns von überall und zu jeder Zeit mit den Kamerad_innen im Büro verständigen können.

Begleiten bedeutet, um sechs Uhr morgens verschlafen am Hafen von Turbo zu stehen und die Abfahrt eines Bootes abzuwarten, mit dem einige Vertriebene und die Mitarbeiter_innen einer sie beratenden Menschenrechtsorganisation ins Flussgebiet Cacarica begleitet werden möchten. Schon im Hafen wird klar, dass man beobachtet wird. Manchmal versucht jemand die Vertriebenen auszufragen, wohin sie fahren, wie viele sie sind, usw. Begleiten bedeutet, an einem Kontrollposten der Marine vorbeizufahren, oft stundenlang auf dem Fluss unterwegs zu sein, das Boot mühsam durch viel zu flaches Wasser zu schieben, in Gummistiefeln durch matschiges Gelände zu waten und tage- oder gar wochenlang in einem kleinen, abgelegenen Dorf zu leben, in dem es weder Strom noch fließendes Wasser oder Zufahrtswege gibt. Das Satellitentelefon ist die einzige Verbindung zur Außenwelt.

Begleiten bedeutet, das einzige Kleid anzuziehen, um in der örtlichen Militärgarnision dem Kommandanten unsere Besorgnis um die Sicherheit der Vertriebenengemeinden in Urabá mitzuteilen, ihn daran zu erinnern, dass wir innerhalb seines Zuständigkeitsgebietes arbeiten. Es bedeutet, ihm die Hand zu schütteln und freundlich zu lächeln, obwohl man weiß, dass er an Menschenrechtsverletzungen beteiligt ist oder sie zumindest mit seinem Einverständnis begangen werden. Begleiten bedeutet aber auch stunden- oder tagelange Büroarbeit, das Schreiben von Berichten und Informationen, das Lesen der Berichte der Teams aus Bogotá, Barrancabermeja und Medellín, Teamsitzungen von bis zu zwölf Stunden, in denen die Arbeit geplant und über die allgemeine politische Situation gesprochen wird, Sitzungen mit kolumbianischen oder anderen internationalen Organisationen, das Bedienen des fast pausenlos klingelnden Telefons. Die Telefone und die Computer sind ständig besetzt: Kommunikation und Information sind wichtige Bestandteile der Arbeit.

Wie gesagt, Begleitarbeit in Urabá kann vieles bedeuten und kein Tag sieht aus wie der andere, Freizeit gibt es selten, dafür oft zu wenig Schlaf. Doch man gewöhnt sich an die Hektik, die Unvorhersehbarkeit der Lage und an die unglaublich vielen verschiedenen Menschen, die man kennen lernt. Die Ausnahmesituation wird zum Alltag, das tägliche Risiko fast zur Routine. Im Nachhinein habe ich noch nicht einmal das Gefühl, etwas Außergewöhnliches geleistet zu haben.“